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12. Aug 2020 - 15 min Lesezeit

Wieder nichts gelernt!

Warum Unfallanalysen weniger bringen als allgemein angenommen.
Weil es zum aktuellen Beitrag Walter Siebert (Wollen wir überhaupt aus Unfällen lernen, #bergundsteigen111) passt und immer noch gut ist zum Nachdenken und Diskutieren: ein Beitrag von Walter Würtl und Peter Plattner aus #bergundsteigen95 vom Sommer 2016.
„Wenn etwas einmal passiert, ist es Zufall; wenn etwas zweimal passiert, ist es eine Frage; und wenn etwas dreimal passiert, ist es die Antwort!“, hat angeblich der Schauspieler und Autorennfahrer Paul Newman (1925-2008) gesagt. Foto: argonaut.pro

„Aus Unfällen lernen!“ ist dem entsprechend einer der wichtigsten Inhalte in Ausbildungen zu riskanten Tätigkeiten. Im Bergsport ist das Interesse an Unfällen besonders hoch. So gibt das Österreichische Kuratorium für Alpine Sicherheit eine eigene Zeitschrift für Alpinunfälle und Alpinunfallstatistik heraus (analyse:berg). Wahrscheinlich ist keine andere Betätigung oder Sportart so auf Unfälle fokussiert – vergebens sucht man z.B. die Herausgabe der „Lehrreichsten Autounfälle des Jahres“ durch den ADAC. Nur sehr „exklusive“ Sportarten, die von wenigen bestens ausgebildeten Menschen durchgeführt werden können, leisten sich erschreckend klare und offene Auflistungen aller bekannten tödlichen Unfälle. Solche „fatality lists“ werden seit Jahren im Internet z.B. zum BASE-Springen oder Rebreather-Tauchen geführt – eine solche umfassende internationale Auflistung von Alpinunfällen gibt es unseres Wissens nicht.

Doch egal aus welchen Informationsquellen: „Lernen aus Unfällen“ ist leichter gesagt als getan. Wenige werden z.B. behaupten können, durch die Lektüre des „Struwwelpeter“ den richtigen Umgang mit Streichhölzern, Fremden oder Wetterstürmen gelernt zu haben? Wie auch immer, möchte man aus Schaden (anderer) klug werden, müssen sämtliche Fakten und Einflussfaktoren des Unfalls bekannt sein und unvoreingenommen analysiert werden. Eine schwierige Voraussetzung, wie wir noch sehen werden.

Ein Fall für Ingenieure? 

Eine saubere Unfallanalyse, an der Alpinpolizei, Alpin-Sachverständige und meist weitere Experten bzw. Prüfhäuser beteiligt sind, kann selten – aber immer wieder – zum Ergebnis führen, dass ein genormter

Relativ einfach ist das Ganze noch bei technischen Fehlfunktionen, Material- oder Konstruktionsfehlern. Wenn hier (zumindest weitgehend) alle negativen Faktoren – auftretende Kräfte, Winkel des Krafteintrags, Verschleiß des Materials, genaue situative Anwendung, uvm. – in ihrem Wirkungszusammenhang bekannt sind, können Ingenieure klären, warum beispielsweise ein Karabiner an einer Zwischensicherung gebrochen oder ein Klettersteigset bei relativ geringer Belastung gerissen ist. 

Auch versteckte Gefahren neuer Produkte werden so entdeckt, wie etwa beim IQ-Haken, der ein schnelles Einhängen des Seils in die Umlenkung ermöglicht – aber auch ein genau so leichtes, ungewolltes Aushängen …

Werden durch die Unfallanalyse solche Gefahrenquellen am Material entdeckt, können sie durch Normung künftig verhindert und aktuell von den Herstellern mit (auch freiwilligen) Rückrufen behoben werden – was leider nicht immer geschieht. 

Dies ist eine gemeinsame Verantwortung von Herstellern, alpinen Verbänden und sonstigen Organen des Konsumentenschutzes. Individualbergsteiger können aus solchen Unfällen – lassen wir es einen  Steigeisenbruch sein – wenig lernen. Sie müssen (und dürfen normalerweise) sich darauf verlassen, dass die Hersteller „sichere Produkte“ herstellen und dabei Normen und Standards einhalten. Grauzonen, etwa zum Umgang mit Sigibolts oder Bohrhaken in Meeresnähe, werden trotzdem bleiben.

Ein Fall für Ingenieure? Eine saubere Unfallanalyse, an der Alpinpolizei, Alpinsachverständige und meist weitere Experten bzw. Prüfhäuser beteiligt sind, kann selten – aber immer wieder – zum Ergebnis führen, dass ein genormter Ausrüstungsgegenstand trotz korrekter Anwendung versagt hat. So geschehen am 5. August 2012, als in Tirol bei einem Sturz beide Arme eines Klettersteigsets gerissen sind. Aus solchen Unfällen können wir nichts lernen, da ein anderes Verhalten oder eine andere Sicherungstechnik nichts gebracht hätte. Solche Unfälle zeigen konstruktive Mängel auf, auf welche die Hersteller reagieren müssen. Im konkreten Beispiel waren umfangreiche Rückrufaktionen zahlreicher Klettersteigset-Produzenten die Folge. Darüber hinaus engagierte sich die DAV-Sicherheitsforschung in den Normengremien, empfahl zusätzliche Belastungstests und ging dem Unfallmuster weiter nach – obwohl nicht unmittelbar zusammenhängend, endete das Ganze u.a. in einer einheitlichen Empfehlung für Sets mit Bandfalldämpfer. Foto: Alpinpolizei

Ist Verhalten messbar? 

Solche „technisch bedingten“ Unfälle machen nur einen kleinen Teil in der Statistik aus. Der Großteil der Alpinunfälle geschieht aufgrund des Verhaltens des bergsteigenden Individuums. Die Unfallursache sind meistens wir selbst. Und das ist ein Problem für die Analyse, für die eben im Wesentlichen alle Faktoren und Wechselwirkungen bekannt sein müssen. Tatsächlich sind diese aber so gut wie nie komplett verfügbar – was die Analysen wieder auf die „harten Fakten“ beschränkt, die leicht zugänglich und auch für Außenstehende nachvollziehbar sind.

Glauben wir dann ein Muster hinter einem Unfall zu erkennen, urteilen wir nicht selten mit „Typisch!“; als ob das dazugehörige Verhalten oder die Entscheidungen mit hundertprozentiger Sicherheit in der Katastrophe enden musste, weil es auf dem Papier – bzw. im Internet – ja so kommen musste. 

Und dabei liegen wir meistens falsch, unser schnelles Urteil ist gerne ein Irrtum. Denn die oft äußerst komplexe Fehlerkette oder die fatale Fehlerkombination bleibt uns regelmäßig verborgen! Schließlich ist jeder Unfall anders und die gerne verwendeten Verallgemeinerungen können den unterschiedlichen Unfalldynamiken meist nicht gerecht werden.

So haben beispielsweise Kletterunfälle in der Halle oft dasselbe Muster: Tubersicherung, dünnes Seil, unerfahrener Sicherer und unvorhergesehener Sturz. Wenn aber bereits diese vier Punkte alleine unfallrelevant wären, gäbe es jährlich zigtausende Abstürze in den Kletterhallen. Erst in der aufwändigen Detailanalyse werden die individuellen Umstände und Mechanismen jedes solchen Unfalls sichtbar – oder auch nicht. 

Der Unfall ist immer nur der für alle sichtbare „worst case“ am Ende einer Reihe von Handlungen, Überlegungen, Entscheidungen oder Maßnahmen. Und von denen werden wohl einige oder alle oder manche in dieser speziellen Kombination nicht gut gewesen sein.

Ist Verhalten messbar? Nach einem Unfall ist klar, dass etwas nicht wie geplant gelaufen ist. Beim Großteil der Alpinunfälle stellt sich rasch heraus – weil die verwendete Ausrüstung in einwandfreiem Zustand ist –, dass es nicht am verwendeten Material gelegen haben kann. Bleibt nur der Bediener, also der Mensch, übrig und es wäre dann einfach und unkompliziert, schnell ein „bewährtes“ Unfallmuster als Ursache zu bemühen. So entlockt uns ein Grounder in der Halle, bei dem die Parameter „Tuber & dünnes Seil & Sicherungsanfänger & unerwarteter Sturz“ zusammengekommen sind, oft ein achselzuckendes „Typisch!“ Und das ist vorschnell und entbehrlich – denn wenn dem so wäre, dann müssten täglich mehrere Hallenkletterer auf dem Boden aufschlagen. Möchten wir aus solchen Unfällen lernen, dann muss jedem einzelnen dieser – erstaunlich selten vorkommenden – Ereignisse auf den Grund gegangen und versucht werden herauszufinden, was tatsächlich alles hineingespielt hat, dass es letztendlich zum Aufschlag gekommen ist. Es gilt also nicht nur die offensichtlichen „harten Fakten“ zu interpretieren, was oft schwierig und manchmal unmöglich ist. Foto: argonaut.pro

Hinterher klüger?

„Ex post“, also aus dem Blickwinkel und mit dem Wissen nach einem Unfall, scheint es relativ einfach, die Ursachen dafür zu benennen: Warnstufe 3, steiler Nordhang, tödliche Schneebrettlawine. Ob das tatsächlich zwingend kausal – also unfallrelevant –  war, ist aber tatsächlich nicht einfach zu sagen. Die Entscheidung, diesen Hang zu fahren, könnte aus verschiedenen Gründen vor dem Lawinenabgang noch absolut nachvollziehbar gewesen sein. Dass sie in diesem Fall letztendlich „falsch“ war, hat sich eben erst in der Retrospektive herausgestellt.

Zeitungen, Radio und Fernsehen – oder gar vermeintlich soziale Netzwerke – sind dennoch schnell mit Schuldzuweisungen und Vorverurteilungen zur Stelle; sehr unterschiedlich bemüht um seriöse Informationen und saubere Recherche. Aus einer Berichterstattung, die in erster Linie das – richtigerweise „unser“ – Bedürfnis nach Sensationen befriedigt, können fachlich versierte und interessierte Bergsportler aber nichts lernen! Und für Laien bleibt nur die bodenlose Botschaft, dass Leute, die sich freiwillig dem gefährlichen „Extremsport“ Bergsteigen aussetzen, zwangsläufig und zu guter Recht in dieser Gefahr umkommen müssen.

Objektive Analysen müssen sich immer in die Position der Betroffenen versetzen und deren Handlungen aus dem Blickwinkel „vor dem Unfall“ betrachten – mit möglichst allen situationsspezifischen Umständen und gruppendynamischen Beziehungen. Sind nicht sämtliche Informationen verfügbar, bleibt das Bild vom Unfallgeschehen unvollständig und die Gültigkeit der Unfallanalyse begrenzt. Denn welcher Punkt letztlich den Ausschlag gab, dass ein schöner Tag in den Bergen in einer Katastrophe endete, bleibt oft verborgen.

Wir können nur dringend nahelegen, sich vor schnellen Schlussfolgerungen zu hüten. Vielmehr gilt es zu akzeptieren, dass Alpinunfälle uns manchmal die Grenzen unserer Einsicht und Lernmöglichkeiten schmerzhaft vor Augen führen.

Pech, Blackout oder Wissenslücke?

Eine weitere Einschränkung, warum man aus manchen Unfällen genau gar nichts Bergsportspezifisches für seine anstehenden Alpinausflüge lernen kann: es gibt Ereignisse, wo man sagen muss „Pech gehabt!“. Der Blitz aus heiterem Himmel, unerwarteter Steinschlag, der Umlenkhaken im ausbrechenden Felsblock und unglaublich viel Kreatives mehr. Wir müssen damit leben, dass wir – egal ob Anfänger oder Könnerin – zur falschen Zeit am falschen Ort sein können. Wir können ganz einfach – ohne Unwissenheit, Unvermögen, Ignoranz oder Gruppenphänomenen – dieses Pech haben und uns deswegen verletzen oder ums Leben kommen. Mit solchem (Rest-)risiko muss leben, wer sagt „das ist es mir wert!“. Sich andererseits nur und immer auf das Glück zu verlassen, wäre Hasardspiel.

Andere Unfälle scheinen alles andere als komplex, sind isoliert betrachtet so trivial, dass jeder einigermaßen vernunftbegabte Mensch den eindeutigen Fehler identifizieren und den schädlichen Ausgang vorhersehen kann. Beispielsweise lenkten im vergangenen Jahr zwei Eiskletterer ihr Topropeseil über eine Reepschnur um, die dann beim Ablassen durchschmolz und riss. Ein absolutes Tabu, wie jeder weiß, der irgendeinen Kurs absolviert oder einigermaßen kompetente Freunde hat. Doch kann daraus gelernt werden? Natürlich! Sich eben gut ausbilden zu lassen. Die betroffenen Kletterer waren nun aber nicht nur ausgebildet und auch sehr erfahren, es kann sich also nur um ein „Blackout“ gehandelt haben. Und wer ehrlich ist, muss zugeben: Ein solcher Aussetzer kann jedem passieren und ist vermutlich den meisten Leserinnen bereits passiert – vermutlich aber mit geringen oder ohne ernsthafte Konsequenzen. 

Wer mit einem solchen ehrlichen und bescheidenen Menschenbild unterwegs ist, wird zumindest die Konsequenz ziehen, wird auf redundante Methoden sowie eigene und externe Kontrolle – wie dem Partnercheck –  achten.

Pech, Blackout oder Wissenslücke? Dass es eine schlechte Idee ist, beim Toprope-Klettern das Seil durch eine Reepschnur umzulenken, ist bekannt: beim Ablassen wird die Reepschnur nach wenigen Metern durchschmelzen. Dennoch passieren die darauffolgenden Abstürze immer wieder – und betroffen sind nicht nur Menschen, die keine Ahnung hatten, was sie da tun, die keine Ausbildung hatten. Also kann es nicht an mangelndem Wissen liegen, sondern der Unfallgrund muss irgendeine Art von Blackout gewesen sein. Solche „Aussetzer“ passieren den Besten und es ist eine gute Idee, alles Mögliche zu tun, um dem entgegen zu wirken. Foto: Walter Würtl

Wer lernt von wem?

Kann man dann überhaupt „aus Unfällen schlauer werden“? Entwarnung: Ja, das ist möglich – allerdings für Einsteiger oft schwieriger als für Könner. Denn selbst, wenn die Faktenlage von Unfällen möglichst umfassend und objektiv erfasst ist, braucht es oft ein tiefgehendes Verständnis, um die Hintergründe tatsächlich nachvollziehen zu können. Deshalb ist es primär die Aufgabe von Ausbildungs- oder Expertenteams, Unfälle zu analysieren und die richtigen Schlüsse für Empfehlungen an „Endverbraucher“ zu ziehen. Bei der Vermittlung dieser Lerninhalte in Ausbildungskursen können Unfallbeispiele dann als Verständnishilfe dienen.

Betrachten wir das Beispiel „Knoten im Seilende“. Alleine in Österreichs Bergen sterben jedes Jahr drei bis fünf Menschen – 10 bis 15 werden schwer verletzt –, weil beim Sichern oder Abseilen das Seilende übersehen wird. Die Abhilfe scheint leicht: „Seilende abknoten!“.

Unfallkundlich gesehen wäre es aber falsch zu behaupten, dass der fehlende Knoten im Seilende die kausale Ursache ist. Vielleicht liegt ja primär ein Planungsfehler vor, weil das Seil zu kurz war oder der etwas versteckte Abseilstand übersehen wurde. Damit es zum Absturz kam, musste zudem auch noch die angesagte Aufmerksamkeit fehlen oder eine andere Störung im Spiel gewesen sein.

Ist die (Kletter-)Regel „Kein freies Seilende“ also daneben? Bekannterweise kritisieren manche Experten, dass sich Knoten im Seilende beim Seilabziehen am Fels verhängen können und die Seilschaft dann blockiert ist. Hier kann die Unfallanalyse helfen, die Diskussion auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, indem sie die negativen und positiven Aspekte des Knotens im Seilende vergleicht. Rund 30 Tote und 100 Schwerstverletzte (mit bleibenden Schäden) in den letzten zehn Jahren (in Ö) stehen hier einer Handvoll Rettungsaktionen ohne dramatische Folgen gegenüber. Es ist also klar, welches Grundmuster die Unfallforscher den Bergsportlern dazu empfehlen – jenes zur situativ eigenverantwortlichen Entscheidung.Mit der Frustration, dass seit Jahrzehnten bekannte Unfallmuster – die ebenso lange veröffentlicht und in Ausbildungen thematisiert werden – Jahr für Jahr Ursache für weitere Bergtote sind, muss jeder umgehen lernen, der sich mit dieser Thematik beschäftigt. Beispiel dafür sind die Mitreißunfälle in Fels und Firn: Egal ob Anfänger oder Profibergführer, regelmäßig kommen jedes Jahr Menschen dabei ums Leben, weil diese Technik falsch verwendet wird.

Wer lernt von wem? Für Anfänger ist es schwieriger, aus den Unfällen anderer zu lernen, als für Könner. Nur mit viel Wissen und Erfahrung kann ich z.B. unterscheiden, ob eine Bergführerin in höchster Perfektion die Sicherungstechnik „Gehen am kurzen Seil“ anwendet oder ob eine private Anfängerseilschaft unbewusst beschlossen hat, wenn, dann gemeinsam und durch das Seil verbunden in den Tod zu stürzen. Aus solchen klassischen Mitreißunfällen kann nur lernen, wer bereit ist sein Verhalten zu ändern. Das bedeutet (außerhalb vom Führungskontext): seilfrei gehen, standplatzsichern oder umdrehen. Obwohl seit Jahrzehnten darauf hingewiesen wird, ist dieses Unfallmuster nicht auszurotten. Foto: argonaut.pro
Mitreißunfall Großglockner. Eine Zweierseilschaft war am Stüdlgrat angeseilt und gleichzeitig unterwegs, als ein Bergsteiger auf 3.720 m ausrutschte und den anderen mitriss. Beide kamen 500 Höhenmeter tiefer am Ködnitzkees zu liegen … Foto: Alpinpolizei

Die eigene Nase packen?

Ohnehin lernt man am besten aus eigenen Unfällen – vor allem, wenn es hinreichend schmerzhaft war! Aber auch aus Beinaheunfällen (das Wumm-Geräusch im Hang, der abendmüde Stolperer) kann man nützliche Lehren ziehen. Denn wer selber betroffen ist, vielleicht sogar in verantwortlicher Position, kennt am besten die Faktoren und Bedingungen, die sich letztlich zum Unglück wendeten. Aus deren Analyse können jene wertvollen Erfahrungen erwachsen, die uns kompetenter werden lassen.

Könnten, denn dazu braucht es eine vollkommen ehrliche und selbstkritische Auseinandersetzung. Und die ist alles andere als einfach. Nicht nur, weil manche Bergsportler geradezu systematisch Glück mit Können verwechseln. Sich einen Fehler einzugestehen, ist besonders schwierig in einer Gesellschaft, die Perfektion und Erfolg idealisiert.

„Aus Schaden klug zu werden“, gelingt am ehesten, wenn der Unfall tatsächlich einen persönlichen finanziellen, körperlichen oder „sozialen“ Schaden erzeugt hat. Wenn der Schaden aber ausbleibt, können wir getrost davon ausgehen, dass wir ihn bei nächster Gelegenheit wiederholen. Aus Fehlern lernen, deren Konsequenzen nicht wirklich drastisch waren –  das ist eine Kunst, die nur wenige, äußerst reflektierte Menschen beherrschen. Wer sie lernen will, kann Hilfe bei guten Freunden und fachlich versierten Kollegen suchen, die „Klartext“ reden. Etwa durch eine standarmäßige „Manöverkritik“ nach jeder Tour, die auch „gerade noch mal gut gegangene Schwächen“ und „kritische Situationen“ diskutiert – und vielleicht sogar alternative Szenarien durchspielt, nach denen man künftig handeln könnte.

Grundlegende Haltung?

Irgendwann stellt Captain Jack Sparrow fest:

 „Das Problem ist nicht das Problem. Das Problem ist die Haltung gegenüber dem Problem. Verstehen sie mich?“ 

Bergsteigen wurde Bergsport, und dieser teilweise ein Breitensport. Die Diskussion, ob dies nun mehr oder weniger toll ist, ist müßig. Es ist ein Fakt. Ebenso wie, dass das Ganze trotzdem immer noch ein „Risikosport“ bleibt. Auch wenn das einige nicht akzeptieren möchten – trotz Halbautomaten und Lawinenairbags. Nun ist es ja begrüßenswert, wenn sich die meisten Bergsportler Wochenende für Wochenende dort bewegen, wo es tatsächlich weniger gefährlich ist: auf Modeskitouren, in bestens eingerichteten Klettergärten und alpinen Sportkletterrouten. Ebenso ist zu wünschen, dass ihnen in diesem Umfeld wenig oder nichts Ernstes passiert. Gepaart mit einigen wenigen Grundregeln und Handlungsanweisungen – wie sie in jeder Ausbildung vermittelt werden – haben sie eine gute Chance, ein unfallfreies Kletter- oder Bergleben zu führen. 

Ob aus ihnen aber selbstverantwortlich handelnde Sportler oder eben Bergsteiger werden, die sich auch abseits etablierter und standardisierter Situationen wohl fühlen und dort ihre Handlungskompetenz bewahren, sei dahingestellt. Ebenso, ob das notwendig oder gewollt ist. Um aus Unfällen anderer zu lernen, um Unfallanalysen zu interpretieren, ist es jedoch meist notwendig, ein breites Grundverständnis mitzubringen. Nicht nur rein technisch, sondern auch vom Zugang zu Risiko und Unsicherheit her. Anders ausgedrückt: Wer sich immer an Regeln hält, wer nie einen Schritt zu weit geht, wird seine Grenzen nie kennenlernen. 

Leider müssen wir feststellen, dass der Tourengeher, der immer mit Lawinenairbag und elementarer Reduktionsmethode unterwegs ist, immer öfter per se absolut kein Verständnis für die Freeriderin hat, die beim gespannten Dreier analytisch entscheidet und keinen ABS dabei hat. Verurteile ich dieses Handeln aber von Anfang an, bringe ich nicht die Toleranz, auf mich in ihr „Mindset“ hineinzuversetzen, bin ich nicht neugierig genug herauszufinden, was sie gelenkt haben könnte – dann nehme ich mir jede Chance, von ihrem Irrtum zu profitieren. 

 

„Ein Experte ist eine Person, die durch eigene schmerzliche Erfahrungen herausgefunden hat, was man in einem sehr engen Bereich machen kann“ Niels Bohr (1885-1962)

Also, am schmerzlosesten lernt man aus fremden Fehlern; nachdrücklicher vermutlich aus eigenen. Dass Schäden aus eigenen Fehlern nicht bleibend sein mögen, dass sie vielleicht zum positiven Wendepunkt des eigenen Risikohandelns werden, wäre uns allen nur zu wünschen. Denn im Bergsport –  wo der erste Fehler gleichzeitig der letzte sein kann – haben wir nicht unendlich viele solcher Lernchancen!

 

Erschienen in der
Ausgabe #111 (Sommer 20)

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